Nachhaltig Arbeiten und Wirtschaften: 8 Gründe für mehr Nachhaltigkeit – Unternehmen schaffen Mehrwert für Mittelstand und Gesellschaft

Zu den Schwerpunkten der wissenschaftlichen Arbeit von Dr. Barbara Castrellon Gutierrez, Lehrstuhl für Personalwirtschaft und Business Governance an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), zählen die Themen Nachhaltigkeit und Mittelstand. Im folgenden Interview erläutert Castrellon Gutierrez den Stellenwert und die Vorteile, Nachhaltigkeit als Erfolgsfaktor bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle mit einzubeziehen. Darüber hinaus bietet sie Einblick in die dreijährige Projektarbeit bei AgilHybrid.

AgilHybrid:
Welche Bedeutung besitzt Nachhaltigkeit im Verbundprojekt AgilHybrid?

Barbara Castrellon Gutierrez:
Nachhaltigkeit ist ein Querschnittsthema, welches im Verbundprojekt AgilHybrid eine bedeutende Rolle spielt. Alle Projektbeteiligten sind sich ihrer ökologischen und sozialen Verantwortung bewusst, die insbesondere bei der Entwicklung von neuen digitalen Geschäftsmodellen entsteht.

Im Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedet und damit einen Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung gesetzt. Basis der Kernbotschaften sind die „5 Ps“: People, Planet, Prosperity, Peace and Partnership, auf Deutsch: Mensch, Planet, Wohlstand, Frieden und Partnerschaft.

Die 17 Nachhaltigkeitsziele, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), gelten seitdem als handlungsleitende Prinzipien sowohl für Unternehmen als auch für Wissenschaftsinstitutionen und daran möchten wir uns messen lassen.

AgilHybrid:
Gibt es hier aus Ihrer Sicht Schwerpunkte in der Projektarbeit?

Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung – Tu Du’s auf 17. Ziele.de

Barbara Castrellon Gutierrez:
Ja, in jedem Fall. Im Projekt AgilHybrid standen mittelständische Unternehmen der Haus- und Gebäudetechnik im Fokus. Wenn wir über die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle sprechen und bedenken, dass über 99 % der deutschen Unternehmen dem Mittelstand angehören, wird deutlich, was für ein enormes Potenzial die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien für Unternehmen dieser Größe besitzt. In Bezug auf das AgilHybrid-Projekt ist außerdem besonders spannend, dass gerade die Haus- und Gebäudetechnik aufgrund ihrer Klimawirkung eine sehr relevante Branche ist, wenn es darum geht, einen spürbaren Beitrag zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu leisten. Das betrifft im Projekt AgilHybrid daher insbesondere auf die folgenden drei SDGs zu: „Nr. 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“, „SDG Nr. 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur“ und „SDG Nr. 12: Nachhaltiger Konsum und Produktion“.

→ „SDG Nr. 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“

Im Projekt AgilHybrid haben wir das Konzept Gute Arbeit 4.0 entwickelt. Das Konzept zeigt auf, was eine positive Arbeits- und Lernkultur ausmacht und wie Unternehmen diese entwickeln können. Gute Arbeit 4.0 basiert neben theoretischen Erkenntnissen auf der Analyse von Reflexionstagebüchern. Darin haben Wissensarbeitende unserer beteiligten AgilHybrid-Projektunternehmen fünf Wochen lang regelmäßig ihr Befinden und ihr Verständnis von guter Arbeit notiert.

Dabei ging es zum einem um eine gute Arbeitsgestaltung, zum Beispiel im Hinblick auf die Arbeitsstrukturen oder das monetäre Einkommen. Ein weiterer Punkt waren Angaben zur positiven Arbeitskultur wie Wertschätzung und Unterstützung. Das sind Faktoren, die unter anderem das Empfinden von „Arbeitsglück“ beeinflussen.

Aus der Forschung wissen wir, dass von einem positiven Mindset beziehungsweise positiver Arbeits- und Lernkultur sowohl die Beschäftigten als auch die Betriebe profitieren. Sie trägt entschieden zur Motivation der Mitarbeitenden bei, steigert ihr Engagement und ihre Leistungsfähigkeit.

→ „SDG Nr. 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur“

Als ein Konsortium, das sich aus wissenschaftlichen Institutionen und Unternehmen der Haus- und Gebäudetechnik zusammensetzt, leisten wir mit unserer Arbeit einen Nachhaltigkeitsbeitrag in einer sensiblen Branche und bringen hier Innovationen voran, um die negativen Auswirkungen auf Mensch und Natur zu reduzieren.

Betrachten wir beispielsweise den menschgemachten Klimawandel. Im „Klimaschutzplan 2050“ des Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMU) sieht die deutsche Bundesregierung im Handlungsfeld „Gebäude“ bis zum Jahr 2030 eine Reduzierung von CO2-Emissionen um 47 Millionen Tonnen vor. Insbesondere in der Wärmeerzeugung sind enorme CO2-Einsparpotenziale identifiziert worden. Um diese weiter voranzutreiben, ist die Sanierung alter und ineffizienter Heizungsanlagen sowie das Steigern der Modernisierungsrate wichtig.

Das beim Projekt AgilHybrid beteiligte Unternehmen Viessmann Wärme hat in diesem Bereich ein innovatives digitales Geschäftsmodell entwickelt. Über eine digitale Plattform bieten sie eine moderne, energieeffiziente und CO2-arme Heizungsanlage, Photovoltaikanlage oder Batteriespeicher für eine vorher vereinbarte Laufzeit zum Mieten an. Damit leisten die einzelnen Kunden einen individuellen Beitrag zur Energiewende. Die neu installierte Anlage sorgt dafür, dass sowohl die Heizkosten als auch die Stromkosten deutlich reduziert werden. In einer Zeit, in der Energiekosten immer mehr zur sozialen Frage werden, sind wir von Forschungsseite her gespannt, ob das ein Modell ist, das an dieser Stelle auch einen Beitrag zu mehr sozialer Nachhaltigkeit leisten kann.

→ „SDG Nr. 12: Nachhaltiger Konsum und Produktion“

Durch die Sensibilisierung für ökologische und soziale Themen werden bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen bereits Impulse gesetzt. Ein konkretes Beispiel aus dem Bereich Produktion finden wir bei unserem AgilHybrid-Projektpartner Kölling Glas. Dort wurde eine App entwickelt, welche den Bestell- und den Produktionsprozess optimiert. Der Kunde bestellt sein Glas direkt mit einer App über das Handy. Der Auftrag wird dann an die Produktion übermittelt. Das soll helfen, Ressourcen einzusparen, da die Prozesse digitalisiert wurden und nun zum Beispiel weniger Papier und weniger Lagerfläche benötigt werden. Außerdem soll es den Kundenkomfort steigern, da die Kunden die Produkte direkt mit dem Handy nach individuellen Wünschen konfigurieren und bestellen können. Auch sollen die Mitarbeitenden von den verschlankten Arbeitsprozessen profitieren, da die Produktionsprozesse damit weniger fehleranfällig sind und effizienter durchgeführt werden können. Hier zeigen sich aus Sicht der Forschung deutliche Nachhaltigkeitspotenziale.

Im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit sollten das Personalwesen und der Bereich Human Resources (HR) aus wirtschaftlichen Interessen stärker auf eine empowernde Personalauswahl und positive Personalentwicklung bzw. Talentmanagement setzen. Um das betriebliche Miteinander zu fördern, empfiehlt Wirtschaftspsychologin Juliane Mueller aus unserem Wissenschaftsteam an der MLU „positive Methoden“ anzuwenden. Diese können auch mittelständische Unternehmen einfach umsetzen.

AgilHybrid:
Sind Start-ups eher nachhaltig orientiert?

Barbara Castrellon Gutierrez:
Nicht zwingend, das kommt immer auf das Selbstverständnis des Unternehmens an. Gerade mittelständische Unternehmen besitzen hier viel Potenzial und leisten auch schon einiges. Es sind häufig Familienunternehmen, die auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie denken nicht wie Start-ups oder Konzerne in Quartalszahlen und müssen in kurzer Zeit hohe Profite erwirtschaften. Hinzu kommt, dass sie fest in ihrer Region verankert sind und dort bereits oft schon engagiert sind, indem sie beispielsweise den örtlichen Sportverein oder den Kindergarten finanziell unterstützen. Das sind alles Beispiele für Nachhaltigkeitsengagements von Mittelstandsbetrieben.

Viele dieser Unternehmen sind sich ihrer guten Nachhaltigkeitsperformance aber gar nicht bewusst. Da sie diese auch nicht kommunizieren, gehen Potenziale verloren. Deshalb versuchen wir das Thema Nachhaltigkeit auch in unserem Projekt sichtbar zu machen und zu zeigen, dass Nachhaltigkeit, neue digitale Geschäftsmodelle und der Mittelstand kein Widerspruch ist, sondern vielfältige Ansatzpunkte mit Chancen für den deutschen Mittelstand bietet.

AgilHybrid:
Welche Erfahrungen haben Sie in Bezug auf das Anwenden von Nachhaltigkeitskriterien in der Praxis – insbesondere bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle – gemacht?

Barbara Castrellon Gutierrez:
Entscheidend ist, dass bereits bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen neben ökonomischen Kennzahlen auch die ökologischen und sozialen Wirkungen des Geschäftsmodells betrachtet werden. In der Praxis hält sich stellenweise hartnäckig die Ansicht, dass die Berücksichtigung ökologischer Aspekte die Geschäftsmodellentwicklung behindern würde. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

Aus Forschungsergebnissen wissen wir, dass die Betrachtung von ökologischen und sozialen Kriterien Unternehmen zukunftsfähig macht und das es für die Unternehmen wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt.

Es minimiert Kosten unter anderem durch das Einsparen von Energie und Rohstoffen. Auch senkt es Risiken in den Produktionsabläufen, indem Unternehmen beispielsweise dafür sensibilisiert werden, bereits beim Bau von Produktionsstätten Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen und zum Beispiel ihre Gebäude nicht in hochwassergefährdeten Gebieten zu errichten. Ferner schafft es die Voraussetzung, Potenziale zu erkennen wie zum Beispiel für einen offenen Umgang mit Stakeholdergruppen.

Im Projekt AgilHybrid haben wir beispielsweise früh die Kunden in den Fokus genommen. Unser Ziel war, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, die den Kundennutzen erhöhen. Unsere Wissenschaftsbeteiligten der Hochschule Karlsruhe (HKA) haben deshalb bereits zu Beginn des Projektes Design Thinking Workshops bei den Praxisbeteiligten durchgeführt und damit den Kunden in den Mittelpunkt gerückt. Über die gesamte Projektlaufzeit waren wir dadurch sehr nah am Kunden.

So arbeitete beispielsweise das Team der Handelshochschule Leipzig (HHL) gemeinsam mit Viessmann an einer verbesserten Customer Journey. Die beteiligten Unternehmen haben damit einen direkten und praktisch umsetzbaren Input aus der Projektarbeit erhalten. Damit haben wir es dann auch geschafft, die Unternehmen immer wieder für Nachhaltigkeit zu sensibilisieren und zu motivieren.

AgilHybrid:
Was sind aus Ihrer Sicht die ersten wichtigen Schritte für eine gründungswillige Person oder ein bestehendes Unternehmen, um stärker auf Nachhaltigkeit zu fokussieren?

Abbildung: Acht Gründe, warum sich Nachhaltigkeit für Unternehmen rechnet, basierend auf Castrellon Gutierrez 2018
Quelle: Castrellon Gutierrez, Hoßbach & Langnickel 2021

Es ist entscheidend, dass sich sowohl Grundüngswillige als auch bestehende Unternehmen bewusst machen: Das Thema Nachhaltigkeit ist erfolgsrelevant und es ist ökonomisch sinnvoll. Nachhaltigkeitsaspekte nicht zu beachten ist in etwa so, als würden sie Geld auf der Straße liegen lassen. Mit dem Nachhaltigkeitsengagement ergeben sich eine Vielzahl an Potenzialen für die Unternehmen.

Insbesondere in einer Zeit, in der wir bei den Unternehmen erhöhten Handlungsbedarf aufgrund des Fach- und Führungskräftemangels beobachten, möchte ich darauf hinweisen, dass Nachhaltigkeit maßgeblich dabei unterstützt, Mitarbeitende zu gewinnen und zu binden. Da kommt auch wieder das Thema „Gute Arbeit“ ins Spiel, über das ich am Anfang gesprochen habe. Neben dem Bewusstmachen der Potenziale von Nachhaltigkeit sollte Nachhaltigkeit ganzheitlich angegangen werden, sowohl im strategischen als auch im operativen Sinne. Das bedeutet zum Beispiel, im ersten Schritt ein Nachhaltigkeitsleitbild zu entwickeln und sich dabei vor allem die folgenden Fragen zu stellen:

→ Was ist die nachhaltigkeitsorientierte Kernideologie der unternehmerischen Tätigkeit?
→ Was macht das Unternehmen aus?
→ Wohin soll sich das Unternehmen langfristig entwickeln?
→ Was ist das nachhaltige visionäre Zukunftsbild?

→ Was soll beibehalten werden?

Darauf aufbauend gilt es eine Strategie und zur Umsetzung konkrete Maßnahmen festzulegen, um glaubwürdig zu sein und nicht mit dem Vorwurf des Greenwashings konfrontiert zu werden.

Ausgabe 4: „Kreativität als Erfolgsfaktor für eine nachhaltige Unternehmensentwicklung“

HR Insights ist eine Publikationsreihe des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalwirtschaft und Business Governance an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Publikationsreihe präsentiert regelmäßig aktuelle Forschungsergebnisse.

AgilHybrid:
Was raten Sie Führungskräften von Unternehmen oder Start-ups, wenn sie Nachhaltigkeit in den einzelnen Unternehmensbereichen stärker als bisher berücksichtigen wollen? Gibt es einen bestimmten Weg, sich als Unternehmen damit auseinander zu setzten? Gibt es eine Checkliste? Wo gibt es Beratung für den Umbau?

Barbara Castrellon Gutierrez:
Glaubwürdigkeit ist entscheidend. Nicht alle Unternehmen haben das Thema Nachhaltigkeit in ihren Kernwerten verankert. Aber jeder Schritt in Richtung Nachhaltigkeit ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Insbesondere in einer so sensiblen Branche wie der Haus- und Gebäudetechnik. Nachhaltigkeit ist auch längst kein Nischenthema mehr, im Gegenteil, es berührt alle Betriebsbereiche.

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Forschungseinrichtungen wie Universitäten, die sich dem Thema auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive widmen. Aber auch die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern und Branchenverbände bieten zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten an, unter anderem mit Leitfäden oder Selbstchecks. Außerdem hat die Bundesregierung ein breites Förderprogramm für Unternehmen im Energiebereich aufgelegt, welches genutzt werden kann. Und natürlich stehen wir mit unserer Expertise und Erfahrung im Projekt Interessierten als Ansprechpartner:innen zur Verfügung.

AgilHybrid:
Haben Sie vielen Dank für das Interview.

Projektbeteiligte

Dr. Barbara Castrellon Gutierrez unterstützt seit Oktober 2018 das Team des Lehrstuhls für Personalwirtschaft und Business Governance an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg MLU. Zuvor war sie an der MLU in Forschung & Lehre an den Lehrstühlen Marketing und Handel sowie Betriebliches Umweltmanagement aktiv. Zu ihren Schwerpunkten zählen Nachhaltigkeit, KMU, Innovationen & Change sowie Guter Arbeit.

Im Projekt AgilHybrid ist ihr Ziel, wissenschaftliche Inhalte praxisnah zu vermitteln. Sie ist Expertin für die Themen „rund um den Menschen“, ohne die Nachhaltigkeit aus den Augen zu verlieren.

Digitale Geschäftsmodelle:
Mit welchen Hürden kämpfen deutsche Industrieunternehmen?

8 Hürden bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle

2022-01-04T07:53:57+01:00Tags: , |

Teilen Sie gerne diesen Beitrag!

Nach oben